In meiner Kindheit gab es zwei Fernsehsendungen, die ich nie verpassen wollte: „Spiel ohne Grenzen“ und „Einer wird gewinnen“. Das erste war eine Art Olympiade, in der Mannschaften aus verschiedenen europäischen Städten gegeneinander antraten, das zweite eine Quizshow, wobei der Name der Sendung mit Absicht so gewählt worden war, dass die Abkürzung „EWG“ auch für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft stand.
Ob ich als Europäer geboren wurde und deshalb diese Sendungen mochte oder ob ich unter dem Einfluss dieser beiden Unterhaltungsshows erst dazu wurde, kann ich nicht sagen. Aber was mich damals in seinen Bann schlug, weiß ich noch sehr gut: Ich fand es toll, Menschen zu sehen und zu hören, die meiner Muttersprache die Färbung ihrer Sprache gaben. Das machte sie zugleich fremd und liebenswert, exotisch und vertraut, fern und nah und vor allem: unendlich interessant.
Natürlich war ich auch begeistert von den verrückten Wettkämpfen, die sich die Spielemacher von „Spiel ohne Grenzen“ immer wieder ausdachten. Und die Quizfragen von Hans Joachim Kulenkampff, oft inszeniert als kleine Theaterstückchen, elektrisierten mich vermutlich deshalb, weil sie in mir etwas auslösten, was man heute vielleicht als Lust am Lernen bezeichnen würden. Der nachhaltigste Eindruck aber war, dass ich das Gefühl bekam, eine viel größere Familie zu haben, als ich dachte. Das Fremde schien gar nicht fremd, und vor allem: Das Eigene wurde auf einmal auch anders, denn Herr Kulenkampff, der sympathische, deutsche Gentleman, tat in jeder Sendung etwas, das alle Klischees und Stereotypen des steifen, ordentlichen Deutschen durchbrach: Er überzog immer die Sendezeit. Ein lockerer Deutscher, der sich nicht um die Regeln scherte. Das fand ich großartig!
Inzwischen habe ich fast fünfundzwanzig Jahre als Dolmetscher für die europäischen Institutionen gearbeitet, und wenn ich an diese Zeit zurückdenke, als der europäische Gedanke nicht nur im Fernsehen sondern auch in der Wirklichkeit ein reales Versprechen und eine schöne Utopie war, die niemand ernsthaft in Frage stellte, dann werde ich oft wehmütig – und manchmal wütend.
Immerhin hatte ich noch das Glück, unter Jacques Delors’ Kommissionspräsidentschaft arbeiten zu dürfen, als die europäische Einigung innerhalb nur eines Jahrzehnts mit Siebenmeilenstiefeln voranschritt – als aus den europäischen Gemeinschaften erst eine Gemeinschaft und schließlich eine Union wurde, aus sich gegenseitig blockierenden Zollgebieten ein einheitlicher Markt, aus hunderten verschiedenen Scheinen und Münzen eine Währung.
Aber was geschah dann nur? Warum ist nach der Jahrtausendwende plötzlich alles steckengeblieben? Was ist aus dem schönen Nachkriegstraum geworden, dass die europäischen Völker, die sich über Jahrhunderte immer wieder gegenseitig mit Kriegen überzogen haben, sich zusammentun? Nicht damit wir alle gleich werden, sondern damit wir nach innen und außen gleichberechtigt wirtschaftlich und kulturell überhaupt überleben können?
Es dürfte sich inzwischen bis in das letzte europäische Dorf herumgesprochen haben, dass das Zeitalter der Nationalstaaten vor etwa einem halben Jahrhundert zu Ende gegangen ist. Wann also wollen wir mit unserem „Spiel ohne Grenzen“ denn endlich Ernst machen, es in die Wirklichkeit tragen, uns eine echte Verfassung geben, unser europäisches Gemeinwesen auf eine solide, gemeinsame politische Grundlage stellen, die uns handlungsfähig macht und endlich all das leisten und durchsetzen kann, was wir immer nur vollmundig verkünden?
Auch „Einer wird gewinnen“ ist heute kein Format für die Zukunft mehr. Wir Europäer können die Zukunft nur gemeinsam gewinnen. Und wenn uns das nicht gelingt, dann werden wir zwischen zunehmend aggressiver und autoritärer agierenden Blöcken zerrieben, die sich allenfalls für unsere schönen Landschaften, Schlösser, Kirchen und vielleicht noch ein paar Erfindungen interessieren, aber weder für unsere Vorstellungen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten, noch für Arbeitnehmerechte und sozialen Ausgleich, noch für verantwortungsvolles Wirtschaften und Nachhaltigkeit, und schon gar nicht für unsere kulturelle Freiheit, sprachliche Vielfalt und Unterschiedlichkeit.
All dies zu bewahren, auszubauen und zu verteidigen ist unsere gemeinsame Sache, unsere europäische res publica!
Worauf, um alles in der Welt, warten wir nur?
Von Wolfram Fleischhauer, Schriftsteller und Dolmetscher geboren in Karlsruhe, Deutschland www.wolfram-fleischhauer.com Mit DAS MEER veröffentlichte Wolfram Fleischhauer einen Kultroman, der die Auswüsche der internationalen Fischereiindustrie thematisiert. Er adressiert in seinem Roman auf geschickte Art und Weise Fragen, ob und wenn ja, wie die Europäischen Union bei all den nationalstaatlichen Interessen zu einer nachhaltigen Fischereipolitik gelangen kann.