Die Europäische Union: nicht perfekt, aber die beste Basis für eine nachhaltige Zukunft
Bei diesen Wahlen steht die Zukunft der Europäischen Union (EU) auf dem Spiel. Und mit ihr alles, was sie erreicht hat und noch erreichen muss, um unsere Umwelt zu schützen. Liebe Leserin, lieber Leser, auf Sie kommt es an, denn Sie haben das Recht, bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019 mitzubestimmen. Bitte nützen Sie diese Möglichkeit.
Bei diesen Wahlen geht es zuvorderst darum, die Idee des Europäischen Projekts gegen destruktiven Nationalismus und Populismus zu verteidigen. Die Wahlen bieten aber auch eine Chance, unseren Planeten besser zu schützen.
Das neue Europäische Parlament wird Entscheidungen treffen, die von größter Bedeutung für Natur und Umwelt sind, etwa in der Abstimmung über die künftige Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU. Die Wahlergebnisse werden daher zeigen, ob sich Europa und die EU in Richtung größerer Nachhaltigkeit bewegen werden. Derzeit ist die EU, die sich aus Wirtschaftsgemeinschaften und aus der Sorge um den Frieden in Europa entwickelt hat, noch weit davon entfernt, ein Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit zu sein. Aber das Potential für Verbesserungen ist da. Dieser Artikel möchte einige zivilgesellschaftliche Ideen beleuchten, wie Europa nachhaltiger werden kann.
Europäische Lösungen gegen Umweltprobleme
Aus vielerlei Gründen müssen Umweltprobleme – wovon Klimawandel und Biodiversitätsverlust zwei der drängendsten sind – auf europäischer Ebene angegangen werden. Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass dann auf Unionsebene gehandelt werden soll, wenn die angestrebten Ziele hier besser erreicht werden können. Von den Problemen, welche die Qualität unserer Umwelt verschlechtern, fallen fast alle in diese Kategorie. Das liegt zum einen daran, dass Umweltthemen in der Regel keine nationalen Grenzen kennen – denken Sie etwa an die Wasserqualität eines Flusses, der durch mehrere Länder fließt, an den Vogelzug über den ganzen Kontinent oder an das drängende Problem des Klimawandels. Zum anderen schaffen gemeinsame europäische Lösungen aber auch vergleichbare Rahmenbedingungen für die Bürger und Wirtschaftsakteure. Wenn nur wenige Mitgliedstaaten höhere Standards vorschreiben, kann das für bestimmte Akteure in diesen Ländern Wettbewerbsnachteile bringen. Bei einem ganzheitlichen, gemeinsamen Ansatz hingegen treibt es die Innovation voran. Überdies ist die europäische Ebene weniger anfällig für kurzsichtige Entscheidungen aus populistischen Motiven. Der Gesetzgebungsprozess der EU gewährleistet ein gewisses Maß an Stabilität, was besonders in Bezug auf die Umwelt wichtig ist. Die Entscheidung für den polnischen Białowieża-Urwald zeigt außerdem, wie wertvoll es ist, ein wirksames Höchstgericht zu haben.
Falls Sie nun fragen: „Warum Europa?“ – aus Sicht des Umweltschutzes ist das klar. Es gibt keine Alternative zu Grundprinzipien wie dem Rechtsstaat. Hier sollten wir die Erfolgsgeschichten der EU im Umweltschutz würdigen, etwa das Naturschutz-Netzwerk Natura 2000 (das noch nicht vollständig umgesetzt ist, aber z.B. dazu beitrug, den Hambacher Forst vor den Kohlebaggern zu retten), die Wasserrahmenrichtlinie (die derzeit evaluiert wird, aber u.a. wichtig ist, um die Auswirkungen von Projekten auf Gewässer zu bewerten), oder die Luftqualitätsvorgaben der EU (auf deren Basis NGOs wie die Umwelthilfe vor Gericht Fahrverbote erstreiten konnten).
Das Europa, das derzeit diskutiert wird, und das Europa, das wir wollen
Die aktuelle Europäische Kommission mit Präsident Jean-Claude Juncker hat sich nicht aktiv darum bemüht, mehr Nachhaltigkeit in die EU zu bringen. Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags von 2003 und den jüngsten Herausforderungen für die Union wie dem Brexit oder der Migrationsdebatte gab es keine Lust auf tiefgreifende Veränderungen. Stattdessen initiierte die Europäische Kommission einen Ideenfindungsprozess, veröffentlichte verschiedene „Reflexionspapiere“[1] und legte ein umfassenderes „Weißbuch zur Zukunft Europas“[2] vor. Diese Dokumente präsentieren im Wesentlichen verschiedene Szenarien – Business as Usual, geringere Aktivität oder ambitionierteres Handeln. Es gibt in diesen Ergebnissen aber nichts Verbindliches. Übergeordnete EU-Politiken, wie der Mehrjährige Finanzrahmen oder die Gemeinsame Agrarpolitik, die derzeit zur Debatte stehen, werden wesentliche Aspekte der zukünftigen EU für fast ein Jahrzehnt bestimmen. Es ist außerdem unklar, wie die nächste Kommission damit weiter verfahren wird. Die gegenwärtige Kommission will den Prozess beim informellen Europäischen Rat in Sibiu/Hermannstadt am 9. Mai 2019 abschließen. Die Europäische Kommission eröffnete außerdem eine öffentliche Konsultation zur Zukunft Europas[3], die mit dem Ratstreffen endet.
Als Reaktion auf die fünf Szenarien im Weißbuch der Kommission zur Zukunft Europas legte eine breite Koalition zivilgesellschaftlicher Organisationen ihr „Szenario 6: Ein nachhaltiges Europa für seine Bürger“[4] vor. Auch andere Allianzen legen vor der kommenden Europawahl ihre Positionen vor. Die Koalition der zehn größten Umweltschutzorganisationen in Brüssel, die „Green 10“, beschloss ein Manifest mit vier Prioritäten und zehn politischen Forderungen, die als Leitfaden für eine umweltfreundlichere EU angesehen werden können.[2] Diese Zielsetzungen stellen darauf ab, die Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) als übergeordnete Richtschnur heranzuziehen und die „Juncker-Prioritäten“ zu ersetzen, die nur auf „Jobs und Wachstum“ abzielen. Neben der Anpassung der Prioritäten sehen die Umweltschützer die Notwendigkeit von Änderungen in der Regierungsführung. Das könnten etwa Vizepräsidenten für Klimaschutz und für natürliche Ressourcen sein, die für die Erfüllung der SDGs zuständig sind, aber auch Änderungen in der „Agenda für bessere Rechtsetzung“ der Europäischen Kommission. Tatsächlich sollte die zukünftige EU eine „Agenda für gute Rechtsetzung“ haben – mit transparenteren Konsultationsprozessen, Folgenabschätzungen etc. Der Schwerpunkt sollte nicht mehr nur auf der Abschätzung der ökonomischen Kosten einer Rechtsnorm liegen, sondern der Frage folgen, welche Rechtsetzung erforderlich ist, um dem öffentlichen Interesse zu entsprechen, u.a. dem Umweltschutz. Die neuen Rechtsetzungsleitlinien könnten auf dem Prinzip „Think Sustainability First“ fußen und sollten danach trachten, wirksame und verbindliche Rechtsnormen hervorzubringen, die ausreichend ambitioniert sind, um die Umweltprobleme zu bewältigen. Die „Agenda für gute Rechtsetzung“ sollte außerdem von einer Initiative zur besseren Umsetzung begleitet werden, um sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten dem Umweltrecht der Union auch Folge leisten.
Ihre Stimme ist wichtig
Damit wir auf dem Pfad zu einem nachhaltigeren Europa vorankommen, bitte ich Sie nachdrücklich, an der Wahl teilzunehmen. Glauben Sie nicht, auf Ihre Stimme käme es nicht an. Aus der Sicht des Umweltschützers geht es zunächst darum, die Mitglieder und Unterstützer der eigenen Organisation zur Wahl zu bewegen. Auswertungen der Europawahl von 2014 zeigen, dass die Teilnahme unter den älteren Wählern am höchsten war, obwohl sich die jüngeren Wähler mehr um ihre Zukunft sorgen sollten. Etwa 51% der Gruppe 55+ nahm an der Europawahl teil, während es bei den 18- bis 24-Jährigen nur 28% waren.[1] Und die Analysten erwarten nicht, dass sich dieses Bild radikal ändern wird. Da aber die Zusammensetzung und Kräfteverteilung der politischen Gruppen diesmal grundlegend anders sein wird, ist es besonders wichtig, demokratiefreundliche Parteien zu unterstützen, die sich für den Schutz der Umwelt einsetzen. Und es reicht nicht, wenn Sie selbst zur Wahl gehen. Eine Umfrage im Oktober 2018 hat gezeigt, dass nur 41% der Befragten wussten, dass 2019 Europawahlen stattfinden.[2] Sprechen Sie also auch mit Ihrer Familie, Ihren Freunden und Nachbarn darüber.
Dr. Raphael Weyland, deutscher Umweltjurist, Leiter des Brüssel-Büros der deutschen Naturschutzorganisation NABU Derzeit unterstützt er die Dachorganisation BirdLife Europe bei bereichsübergreifenden Fragen in Bezug auf die Wahlen zum Europäischen Parlament. BirdLife Europe führt im ersten Halbjahr 2019 den Vorsitz von Green 10, der Allianz der größten Umweltschutzorganisationen.
[1] Unter anderem gab es Reflexionspapiere zu den Themen Finanzen, Verteidigung, Währungsunion, Globalisierung sowie zur sozialen Dimension der EU. Am 30.1.2019 veröffentlichte die Europäische Kommission auch ein Reflexionspapier über ein nachhaltigeres Europa bis 2030 vor (http://europa.eu/rapid/press-release_IP-19-701_de.htm).
[2] Zu diesem Prozess siehe die Website der Europäischen Kommission: https://ec.europa.eu/commission/future-europe_de
[3] Auch wenn es unklar ist, wie die Europäische Kommission mit den Beiträgen der Bürgerinnen und Bürger umgehen will, empfiehlt der Autor, teilzunehmen: https://ec.europa.eu/commission/future-europe/consultation-future-europe_de
[4] Das Szenario 6 wurde von SDG Watch Europe und Friends of the Earth Europe initiiert; s. http://www.foeeurope.org/sites/default/files/other/2017/german_scenario_6_csos2.pdf
[5] https://green10.org/wp-content/uploads/2017/06/GREEN-10-MANIFESTO-IN-ENGLISH-WITH-CONTACT-DATA.pdf.
[6] http://www.europarl.europa.eu/pdf/eurobarometre/2014/post/post_ee2014_sociodemographic_annex_en.pdf.
[7] https://www.europarl.europa.eu/at-your-service/files/be-heard/eurobarometer/2018/parlemeter-2018/report/en-parlemeter-2018.pdf.